Sonntag, 23. Oktober 2016

Reichsbürger in Bayern


des Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr vom 30.09.2014

In den letzten Jahren konnten Aktivitäten von Gruppen oder Einzelpersonen sogenannter „Reichsbürger“ beobachtet werden, die mit unterschiedlichen Begründungen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland bestreiten, das Rechtssystem nicht anerkennen und den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen. Die „Reichsbürger“ sind in keiner einheitlichen „Reichsbürgerbewegung“ organisiert. Vielmehr existiert eine Reihe unterschiedlichster Personen und Gruppierungen, die unter Berufung auf das „Deutsche Reich“ die Existenz der Bundesrepublik Deutschland leugnen.

Mit verschiedenen Thesen zum „Deutschen Reich“ treten seit Jahren diverse und untereinander konkurrierende Splittergruppen und Einzelpersonen auf. Dabei lassen sich vereinzelt rechtsextremistische oder revisionistische Tendenzen erkennen. Einige der Protagonisten behaupten mit pseudojuristischen Argumenten, sie selbst seien Vertreter des „Deutschen Reiches“. In vielen Fällen handeln lediglich Einzelpersonen, die vorgeben, eine oder gar mehrere strukturierte Organisationen zu vertreten, und zudem unter wechselnden Namen und mit mehrfachen bzw. wechselnden Internetprä- senzen auftreten.

Angehörige der verschiedenen Kleinstgruppierungen weisen sich teilweise auch durch Fantasiepapiere, wie z. B. „Reichsausweise“, aus und vergeben Pseudo-Ämter wie „Reichskanzler“, „Reichsminister“ etc. Daneben werden auch amtlich anmutende Schreiben bzw. „Verfügungen“ versandt. Andere Gruppierungen treten als Hilfsgemeinschaften für angebliche Justizopfer auf. Sie erkennen das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland nicht an und suggerieren den Bürgern, dass sie sich z. B. nicht der bestehenden Gerichtsbarkeit unterwerfen oder Steuern zahlen müssten. Gegen Geld bieten sie Bürgern „Rechtsbeistand“ bei Gerichtsverfahren (vorwiegend Zwangsvollstreckungsverfahren) an, treten als Störer bei Gerichtsprozessen auf oder widersetzen sich der Zwangsvollstreckung. Die bayerischen Finanzämter berichten in den letzten Monaten vermehrt über Fälle, in denen Steuerpflichtige die Existenz der Bundesrepublik Deutschland bestreiten und – z. T. aggressiv – jedwede Mitwirkung im Besteuerungsverfahren verweigern und auch ihren Steuerzahlungspflichten nicht aus freien Stücken nachkommen.

Die Bediensteten in den Finanzämtern, vor allem soweit sie im Außendienst tätig sind, sehen sich in diesem Zusammenhang auch zunehmend mit Drohungen und Schadenersatzforderungen konfrontiert. Im Geschäftsbereich des Staatsministeriums der Justiz ist das Phänomen bekannt, dass Justizbedienstete – insbesondere Gerichtsvollzieher im Rahmen der Zwangsvollstreckung – damit konfrontiert werden, dass Beteiligte die Existenz bzw. Souveränität der Bundesrepublik Deutschland leugnen und/oder die Existenz eines „eigenen“ Staates auf dem Gebiet der Bundesrepublik behaupten. Damit einher geht in der Regel die Behauptung, dass die im konkreten Fall maßgeblichen Rechtsvorschriften keine Gültigkeit hätten und/oder dass den mit der Sache befassten Justizbediensteten die Befugnis fehle, hoheitlich tätig zu werden.

Die häufig aggressiv auftretenden Beteiligten, die derartige Behauptungen aufstellen, rechnen sich meist bestimmten Gruppierungen zu. An Selbstbezeichnungen dergestalt in Erscheinung getretener Gruppierungen sind insbesondere zu nennen: „Germaniten“, „Arbeitsgemeinschaft Staatlicher Selbstverwaltungen“ („StaSeVe“), „Reichsbürgerbewegung“ (auch: „Reichsideologen“), „Reichsverfassungsrechtlicher Staat Deutsches Reich“, „Volksbewegung dem Deutschen Volke“ und „Rechtsnormen-Schutzverein“. Zudem sind die „Neue Gemeinschaft von Philosophen“, die „Kommissarische Reichsregierung“ (KRR) und das „Deutsche Polizei Hilfswerk“ (DPHW) der „Reichsbürgerbewegung“ zuzurechnen.

Die sogenannten „Reichsbürger“ sind den Sicherheitsbehörden zwar bekannt, diese sind aber kein Beobachtungsobjekt des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz (BayLfV). Die bayerischen Sicherheitsbehörden behalten die „Reichsbürger“ aber insbesondere hinsichtlich möglicher extremistischer Bestrebungen im Blick.

Im Bereich der Bayerischen Polizei findet eine statistische Erfassung des Merkmals „Reichsbürger“ nicht statt. Zwar wurde aufgrund einer bei den Landespolizeipräsidien durchgeführten Abfrage deutlich, dass verschiedenste Gruppierungen und Einzelpersonen existieren, die gemeldeten Zahlen bzgl. Anhänger und Einzelpersonen jedoch aufgrund des Fehlens einer Statistik nicht als valide anzusehen sind.

Größere Strukturen oder ein politisch-extremistisches Wirken von größerer Bedeutung sind nicht erkennbar. Insgesamt ist eine weite Aufsplitterung in kleine Gruppierungen ohne Bildung nennenswerter Personenzusammenschlüsse oder differenzierter Organisationsstrukturen feststellbar. Die bisher in Bayern bekannt gewordenen Erkenntnisse im Zusammenhang mit Personen oder Gruppierungen aus dem Spektrum der „Reichsbürgerbewegung“ resultieren überwiegend aus „provokanten“ Schreiben von Einzelpersonen an kommunale oder staatliche Einrichtungen. Mit der Behauptung, dass die Bundesrepublik Deutschland als Staat nicht existiere, werden die geltenden Normen, die  staatlichen Strukturen und die ausführende Verwaltung in Abrede gestellt. Die Behörden bzw. die agierenden Amtsträger werden, verbunden mit pseudo-rechtlichen Belehrungen, aufgefordert, ihre Maßnahmen bzw. ihr Handeln gegenüber dem Betroffenen zu unterlassen, andernfalls würden sie „zur Verantwortung“ gezogen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz prüft laufend, ob extremistische Bestrebungen erkennbar werden.

Belastbare Zahlen zu Störungen und Übergriffen bei Gerichtsverhandlungen oder Zwangsvollstreckungen, zu Drohungen mit Verhaftungen oder Schadenersatzansprüchen sowie zu Beleidigungen in Schriftsätzen durch Angehörige der in Rede stehenden Personengruppen gegen öffentlich Bedienstete können nicht angegeben werden, da hierzu auch im Bereich des StMJ und im Bereich der Steuerverwaltung keine Statistiken geführt werden. Gleiches gilt hinsichtlich Ermittlungs- und Strafverfahren gegen solche Personen. Auch in diesen wird statistisch nicht eigens erfasst, ob der Beschuldigte Anhänger einer entsprechenden Idee ist; die statistische Erfassung erfolgt im Wesentlichen deliktsbezogen.

Eine Abfrage bei den Verbänden der Landespolizei und dem Bayerischen Landeskriminalamt ergab, dass sich das Deliktsspektrum sog. „Reichsbürger“ im Bereich „Widerstand/Übergriffe“ u. a. von Widerstandshandlungen über Bedrohung bis hin zur Körperverletzung erstreckt, bei denen die Opfer verschiedenste Funktionen im öffentlichen Bereich innehatten. Eine vor dem Hintergrund der vorliegenden Schriftlichen Anfrage kurzfristig durchgeführte Umfrage bei den Generalstaatsanwaltschaften in Bayern ergab folgende Verfahren, die seitens der verfahrensführenden Staatsanwaltschaften lediglich aus dem Gedächtnis genannt wurden, weswegen die folgende Aufstellung keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:

Im Bezirk der Generalstaatsanwaltschaft München führte die Staatsanwaltschaft Kempten (Allgäu) im Jahr 2012 Ermittlungen wegen Verleumdungen und der Androhung von Verhaftungen zulasten eines Landrats, von Mitarbeitern eines Landratsamts sowie zweier Richter. Das Verfahren wurde an die Wohnsitzstaatsanwaltschaft des Beschuldigten nach Köln abgegeben. Die Staatsanwaltschaft Traunstein führte im Jahr 2010 ein Strafverfahren wegen Widerstandshandlungen zum Nachteil eines Polizisten bei der Vollziehung eines Vollstreckungshaftbefehls. Der Beschuldigte wurde wegen dieser Tat zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen verurteilt. Im Jahr 2013 kam es bei der Vollziehung eines Haftbefehls durch eine Gerichtsvollzieherin und einen zur Unterstützung hinzugezogenen Polizeibeamten zu einer Widerstandshandlung und  einer Körperverletzung. Die Tat wurde durch eine Geldstrafe in Höhe von 80 Tagessätzen geahndet. Die Staatsanwaltschaft Ingolstadt berichtete betreffend das Jahr 2013, dass in einem Fall einmal vom Vater, das andere Mal von dessen Sohn eine Widerstandshandlung im Rahmen der Vollziehung von Vollstreckungshaftbefehlen begangen wurde. Gegen den Vater wurde eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen, gegen den Sohn ein Zuchtmittel nach Jugendstrafrecht verhängt.

Im Bezirk der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg sind entsprechende Verfahren nicht bekannt. Im Bezirk der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg führte die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg zwei entsprechende Verfahren. So im Jahr 2010 wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und vorsätzlicher Körperverletzung zulasten von Polizeibeamten bei der Vollziehung eines Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlusses. Das Verfahren wurde im Hinblick auf eine anderweitige Verurteilung zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 154 Abs. 1 Nr. 1 Strafprozessordnung (StPO) eingestellt. Im Jahr 2012 kam es in Erledigung eines Vollzugshilfeersuchens für eine KFZ-Zulassungsstelle zu einer Widerstandshandlung gegen einen Polizeibeamten.

Die Frage des Umgangs mit „Reichsideologen“, „Germaniten“ und ähnlichen Personen aus strafrechtlicher Sicht wurde in grundsätzlicher Hinsicht bei der Dienstbesprechung des Staatsministeriums der Justiz mit den Leiterinnen und Leitern der bayerischen Staatsanwaltschaften vom 26. bis 28. März 2014 im Kloster Banz erörtert. Es bestand Einigkeit, dass bei strafrechtlich relevantem Verhalten – z. B. bei strafrechtlich relevanten Drohungen, körperlicher Gewalt, Beleidigungen, (versuchtem) Betrug, oder (versuchter) Nötigung – die Strafverfolgung konsequent betrieben werden soll. Insbesondere soll bei an sich privatklagefähigen Delikten grundsätzlich nicht auf den Privatklageweg verwiesen werden. Diese Fälle sind aus oben genannten Gründen als nicht abschließend anzusehen.

 

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